Hospiz macht Schule

Oma ist ein Schmetterling

Wie die meisten Menschen wusste Frau M. wenig über den Hospizgedanken und die Vielfalt der hospizlichen Arbeit. Bis in der Schule ihrer Tochter Theresa ein neues Projekt vorgestellt wurde und ihre Mutter lebensbedrohlich erkrankte. Im Frühherbst 2009 erregte die Ankündigung eines Projektes für Viertklässler in der Montessori-Grundschule Großalsleben die Aufmerksamkeit der Eltern.

Der Hospizverein „Regenbogen“ stellte „Hospiz macht Schule“ vor; – ein vom Bundesministerium gefördertes und von geschulten ehrenamtlichen Hospizbegleitern gestaltetes kreatives Projekt zu einem der größten Tabuthemen unserer Zeit – dem Tod. „Wir möchten den Kindern Zeit und Raum geben, Leben und Sterben als miteinander verbunden zu erfahren, denn vor Verlusten ist niemand geschützt“, sagt Kordula Schippan, die Koordinatorin des Hospizvereins.

Obwohl ihre Tochter erst die 3. Klasse besuchte, nahm Frau M. an dem Elternabend teil. „Zu dieser Zeit war mein Sohn schwer krank und ich dachte: Wer weiß, vielleicht würde dieses Projekt einmal sehr wichtig für Theresa sein“, erinnert sich Frau M. Die meisten Eltern haben Sorge, dieses Projekt könne ihren Kindern schaden. Sie projizieren eigene Ängste auf ihren Nachwuchs, weiß Kordula Schippan, doch der Tod tritt in jedes Leben und Trauer ist eine hilfreiche und natürliche Fähigkeit, schmerzhafte Verluste zu begreifen und sich neu zu orientieren. Frau M. schüttelt den Kopf. „Da werden Katzen in Regentonnen ertränkt, aber über den Tod der Oma wird nicht gesprochen.“ Dabei ist es so wichtig, die Kinder mit ihren Fragen nicht allein zu lassen. „Hospiz macht Schule“ ist bunt. Das erlebte Theresa ein Jahr später im Kreis ihrer Mitschüler. Gemeinsam überlegten sie, was man für schwerkranke Menschen tun kann, sie malten mit den Fingern Jenseitsvorstellungen auf riesige Blätter, sie schrieben Trostbriefe und sprachen über alles, was sie bewegte.

Theresa profitierte von dem Projekt, als ihre Oma kurz darauf an Krebs erkrankte. Sie schrieb aufmunternde Briefe, in denen sie gemeinsame Erlebnisse auffrischte, und bastelte mit ihrer Mutter ein Erinnerungsalbum für die Oma mit vielen Fotos. Durch den schulischen Kontakt mit den Ehrenamtlichen ermutigt, suchte Frau M. Rat beim Hospizverein „Regenbogen“, als sie sich mit der Situation überfordert fühlte. Sie, die nicht begreifen konnte, wie schnell „so etwas“ passiert, warum ihre Mutter nicht über sich sprechen wollte, keine Hilfe annahm und alles medizinische mit sich machen ließ, ohne den Sinn zu erfragen, lernte in Gesprächen mit Elisabeth Hartmann, einer der beiden ausgebildeten Trauerbegleiterinnen des Hospizvereins, dass sie all diese Dinge akzeptieren musste. Es ist, wie es ist. Man kann und sollte einen schwerkranken oder sterbenden Menschen nicht zwingen – nicht zum Essen, nicht zum Trinken, nicht zum Reden und nicht zu irgendwelchen Therapien. Man kann nur da sein. Auch wenn das schwer auszuhalten ist. In diesen Zeiten ist es von besonderer Bedeutung, selbst „aufgefangen“ zu werden.

Elisabeth Hartmann wurde schon während ihrer Ausbildung bewusst, dass die Trauer der Angehörigen mit allen einhergehenden Gefühlen wie Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit, Einsamkeit oder auch Sehnsucht begleitet werden muss. „Alles, was vorher richtig und wichtig für uns war, wird in Frage stellt, ver-rückt uns im wahrsten Sinne des Wortes. „Meine Mutter verbot den Ärzten, mit der Familie über Details ihrer Erkrankung zu sprechen, sie selbst wies auch alle Gespräche zurück. Das war schlimm“, erinnert sich Frau M. Sie fuhr regelmäßig nach Berlin, um ihre Mutter zu besuchen, Wäsche zu machen, essen zu kochen. Dort nahm sie auch Kontakt mit dem ortsansässigen Hospizverein auf, um ihrer Mutter außerhalb der Familie Menschen an die Seite zu stellen, die Zeit zum Dasein und Zuhören haben, die sich auskennen in pflegerischen, medizinischen und organisatorischen Fragen, um Sicherheit für die häusliche Versorgung zu schaffen. Doch ihre Mutter lehnte jede Hilfe von außen ab. Sie verweigerte sogar der geliebten Enkeltochter das Gespräch. „Es gab keine Hoffnung, dass sie sich irgendjemandem öffnete. Jeder Kontakt – wie mit der Schere abgeschnitten …“, sagt Frau M. Man sieht ihr an, dass sie das bis heute nicht verstehen kann. Aber mit Hilfe von Elisabeth Hartmann lernte sie zu akzeptieren. Ihrer Mutter ging es zusehends schlechter. Eines Nachts brach sie zusammen. Ihr Mann fand sie im Wohnzimmer, komplett angezogen. Niemand weiß, wohin sie unterwegs war. Sie kam ins Krankenhaus.

Als Frau M. dort ankam, lag ihre Mutter nur mit einem Schlüpfer bekleidet unter einem dünnen Laken. „Sie war festgezurrt, weil sie immer aufstehen wollte“, erzählt Frau M. Leider war in dem kirchlichen Krankenhaus wenig vom Hospizgedanken zu spüren. Doch die Verlegung in ein stationäres Hospiz lehnte der Ehemann ab. Frau M., die mit ihrer Tochter oft über das Hospiz-macht-Schule-Projekt gesprochen hatte, zog ihrer Mutter bequeme Kleidung an, schnallte sie ab und sorgte mit einer Salzkristalllampe für warmes Licht im Zimmer, schaffte so eine würdevolle Atmosphäre. Viele Stunden saß die Familie am Krankenbett. „Meine Mutter starb, als wir nach Hause fuhren, um uns ein wenig auszuruhen“, sagt Frau M. „So, als ob sie uns nicht dabei haben wollte.“ Theresa durfte sich in Erinnerung an ihre Oma eine Puppe aussuchen. Bis heute liebt sie ihre Jette innig.

Mit Susanne Rüland, ebenfalls Trauerbegleiterin im Hospizverein Regenbogen, arbeitete Theresa tröstend an der Trauer um ihre Großmutter. Beide kannten sich schon vom Schulprojekt. Mit der Hospizbegleiterin konnte Theresa über alles reden – den Schmerz, das Schweigen der Oma und über die Beerdigung. Sie sprachen darüber, was Theresa tun konnte, wenn sie es während der Trauerfeier nicht mehr aushalten würde und darüber, wer neben ihr sitzen sollte. „Oma ist ein Schmetterling“, sagte Theresa. Schon immer war dieser ein Symbol für beide gewesen. „Mein Traumfresserchen“, das Theresa einst mit der Oma gelesen hatte, liegt noch immer in ihrem Zimmer, gleich neben dem Foto der Großmutter. „Der Hospizverein Halberstadt war ein Glücksgriff für uns“, sagte Frau M. Dort fanden sie und ihre Tochter Antworten und Trost. Hospizarbeit hat viele Gesichter. Und es geht dabei immer ums Leben.

Silke Kuwatsch im Gespräch mit Frau M. im Juli 2013